Europaforum 2005: Die Zukunft der EU

"Die Überwindung der Krise der EU - die Zukunft des Europäischen Projekts" war das Generalthema des 9. Europaforums, das am 18. November in Wien statt fand.

20.11.2005



Der frühere französische Außenminister und EU-Kommissar, Michel Barnier, beim Europaforum 2005.

"Die Überwindung der Krise der EU - die Zukunft des Europäischen Projekts" war das Generalthema des 9. ÖIES-Europaforums, das am 18. November in Wien statt fand. Schwerpunkte der europapolitischen Analyse und Diskussion waren die Perspektiven des politischen Projektes, Identität und Grenzen, die Funktionsfähigkeit der EU sowie ihre Rolle als internationaler Akteur. An der Tagung, die vom Präsidenten des ÖIES, Dr. Werner Fasslabend, eröffnet wurde, nahmen prominente Europapolitiker und Experten aus der EU teil.

Die Bundesministerin für auswärtige Angelegenheiten, Dr. Ursula Plassnik, forderte in ihrer Eröffnungsrede zu mehr Europarealismus auf. In der Welt steige die Nachfrage nach Europa, im Inneren sei dennoch ein Vertrauensverlust der Bürger in die Union feststellbar. Die EU sei weder ein Supermarkt noch ein Superstaat. Es gehe darum, die richtige Balance zu finden und den besten Regelungsort, möglichst nahe am Bürger, zu erkennen. Die Union müsse sich entscheiden, welchen Platz sie in der Welt einnehmen wolle. Im Rahmen der ESVP führe sie weltweit eine Reihe von zivilen und militärischen Operationen durch und habe sich als Krisenmanager bewährt. Österreich leiste dazu einen inzwischen weithin anerkannten Beitrag. Die EU nützt und schützt. Sie plädierte für mehr Vertrauen, mehr Klarheit, mehr Schwung und einen nüchternen Blick auf das Machbare. Es sei notwendig, sich auf konkrete Aufgaben zu konzentrieren. Die Zusammenarbeit auf dem Balkan könnte so dank Stabilitätspakt während der österreichischen Präsidentschaft weiter entwickelt werden.

Perspektiven des politischen Projektes

Der frühere französische Außenminister und EU-Kommissar, Michel Barnier, betonte, dass es falsch wäre, auf die Krise mit einem "großen Schweigen" zu reagieren. Die EU brauche eine europaweite Debatte, denn das europäische Projekt sei in ernster Gefahr. Das Verfassungsprojekt sei in einer kritischen Situation und die Frage des Türkeibeitritts spalte Europa. Die EU wurde für den Bürger aber ohne den Bürger gemacht. Wir brauchen daher Zeit, zuzuhören und miteinander zu reden. Europa habe zwei bis drei Jahre Zeit, durch eine tiefgreifende europaweite Diskussion, der Schwierigkeiten Herr zu werden. Die Gründe für die negativen Referenden müssten genau analysiert werden. So schwierig es ist, Europa zu organisieren, dürfe man die Europäische Vision nicht aus den Augen verlieren. Dem europäischen Projekt müsse eine neue Perspektive gegeben werden. "Wir müssen Klarheit darüber haben, woher wir kommen und was uns verbindet." Europa stehe vor inneren und äußeren fundamentalen Aufgaben. Die Verfassung sei wichtig, denn man müsse die Aufgaben der Union klar definieren, die Effizienz der Entscheidungen sicherstellen, die innere Kohäsion stärken. Die EU sei mit großen Problemen konfrontiert: demographische Entwicklung, unkontrollierte Migrationsströme, Energieversorgung. Sie spreche auch nicht mit einer gemeinsamen Stimme. Die Welt entwickle sich weiter und warte nicht auf Europa. Das Vertrauen der Bürger in die Union muss wieder gewonnen werden. Europa müsse auch ein kontinentales europäisches Projekt bleiben, neue Aufnahmen in die EU sollten Referenden unterzogen werden. Die europäischen politischen Verantwortungsträger müssen sich aber vor allem verstärkt für das europäische Projekt engagieren und ihre nationalen Egoismen hintanhalten. Auch zwischen den Regierenden selbst bzw. innerhalb des Rates müsse ein neues Klima des Vertrauens und Gesprächs geschaffen werden. Die Staats- und Regierungschefs hätten heute das Schicksal der EU in der Hand und sollten ihre Verantwortung wahrnehmen.

Elmar Brok, Vorsitzender des Außenausschusses des Europäischen Parlaments, betonte einleitend, dass die EU in den vergangenen zwanzig Jahren Enormes geleistet habe: Binnenmarkt, Währungsunion, europäische Wiedervereinigung. Heute bestehe jedoch die Gefahr der Überforderung. Die negativen Referenden dürften nicht dazu führen, das Verfassungsprojekt fallen zu lassen. Das fehlende Vertrauen der Bürger in die EU reflektiere die allgemeine Glaubwürdigkeitskrise der Politik in Europa. Die Kommission sei heute nicht mehr treibende Kraft der Integration. Es gehe darum, mit Realitätssinn Europa wieder attraktiv zu machen. Das Friedensargument, nach wie vor berechtigt und wichtig, reiche nicht mehr, der europäischen Idee eine neue Dynamik zu verleihen. Man müsse Europa bei den Bürgern wieder attraktiv machen und auf die Ängste der Menschen, nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Globalisierung, eingehen. Bloße Werbekampagnen ohne klare politische Botschaft würden wenig nützen. Der Überdehnung der Union und ihrer Institutionen durch immer neue Erweiterungen müsse Einhalt geboten werden. Die innere Ausgestaltung der Union habe mit den bisherigen Erweiterungen nicht Schritt gehalten. Wir müssen daher dringend die Grenzen der EU festlegen.

Dr. Caspar Einem, Mitglied des Verfassungskonvents, meinte, dass das Scheitern des europäischen Projekts nicht mehr ausgeschlossen werden könne. Die Menschen identifizieren sich immer weniger mit diesem. Die EU müsse auch für die Bürger einen Mehrwert haben. Diese müssten das Gefühl haben, dass die EU die Dinge weiterbringt und ihnen nützt. Er forderte gleichfalls ein verstärktes europapolitisches Engagement aller politisch Verantwortlichen.

Identität und Grenzen

Botschafter Erich Hochleitner wies einleitend darauf hin, dass die EU bisher eine klare Entscheidung in den Grundfragen der politischen Finalität und der Grenzen der Union vermieden habe. Eine Debatte darüber sei seit dem Türkeibeschluss in Helsinki unausweichlich.

Prof. Sylvie Goulard, Sciences Po Paris, erklärte, dass mit der geplanten Zwangsheirat EU – Türkei etwas in Europa schief läuft. Europa sei ein Produkt seiner Geschichte und Kultur. Die europäische Gesellschaft sei offen und pluralistisch. Die EU sei zwar kein Christenclub, aber man dürfe das Christentum als Wesenselement Europas nicht ignorieren. Die EU sei auch ein politisches Projekt. Die Notwendigkeit, Souveränität zu teilen, habe ein Gefühl zur Solidarität als Voraussetzung. Man könne die Ziele und das Konzept der Europäischen Integration ohne Zustimmung der Bürger nicht total verändern und jeder demokratischen Debatte darüber ausweichen. Trotz großer europäischer Vielfalt bestehe auch ein großes Maß an Einheit und Gemeinsamkeit nicht nur durch das gemeinsame kulturelle Erbe, sondern auch durch europäische Lebensform, Strukturen und Organisation. Diese Vielfalt dürfe aber nicht zu einem Turmbau von Babel führen. Die EU brauche daher klare Grenzen und auch Zeit, ihre Identität zu finden. Man sollte daher die Beitrittsprozesse stoppen.

Nach Univ. Prof. Christian Stadler seien in Europa die politische Strukturen und Grundfunktionen im Kern gleich und konvergieren. Die Europäer verbinde ein gemeinsames geistiges und kulturelles Erbe, griechisches Denken, Christentum, römisches Recht und die Aufklärung. Die Substanz der Identität sei da und müsse nicht neu geschaffen werden, sie müsse vielmehr in einem Prozess der Identitätsfindung sichtbar gemacht werden. Die Trennung von Kirche und Staat sei ein europäisches Prinzip, das bereits von Augustinus, dem ideengeschichtlichen Vordenker politischer Philosophie statuiert wurde. Eine europäische Identität sei nötig, damit das System der EU funktionieren könne.

Dr. Jozsef Szajer, MEP und Vizepräsident der EVP, bezeichnete die Frage der Identität als die zentrale Entwicklungsfrage der EU. Nicht nur ein gemeinsames Wirtschaftssystem verbinde Europa, sondern eine gemeinsame Geschichte, gemeinsame politische, kulturelle und religiöse Werte sowie ein gemeinsames Rechtssystem. Die große Erweiterung war eine Wiedervereinigung europäischer Völker. Die Frage nach der europäischen Identität stellte sich erst, als Länder mit anderer Kultur und Geschichte, wie die Türkei, Mitglied der EU werden wollten. Die Union brauche jedoch heute Zeit, die neuen Mitglieder wirtschaftlich und politisch zu absorbieren. Die EU sei vor allem eine Werte- und Rechtsgemeinschaft. Bei Demokratie, Rechtsstaat und Grundrechten dürfe es keine doppelten Standards und keine Rabatte geben. Die politische Debatte sei in Europa nicht offen und viele wagen es nicht unter dem Diktat der "political correctness", ihre eigene Überzeugung zum Ausdruck zu bringen.

Handlungsfähigkeit der erweiterten EU

Der CSU-Abgeordnete Reinhold Bocklet erklärte, dass die Ablehnung des Verfassungsvertrages eine Legitimationskrise der EU aufzeige. Sie sei das Ergebnis einer Verunsicherung über den Sinn des europäischen Einigungsprozesses. Der Beitritt von zehn neuen Mitgliedsstaaten überfordere bereits die Integrationskraft der EU. Es sei unabdingbar, sich über Finalität und Grenzen der EU zu einigen. Die Antwort auf die Frage, wer zur politischen Union Europas gehören soll, ist für die Akzeptanz der EU und der weiteren Integration der Bürger entscheidend. Die EU-Mitgliedsstaaten und ihre Gesellschaften müssen sich ihrer Verantwortung für die EU bewusst werden und demgemäß handeln.

Dr. Johannes Farnleitner, Mitglied des Konvents, wies darauf hin, dass die Ablehnung des Verfassungsvertrages auch ein deutliches Votum gegen den Neoliberalismus sei. Man müsse die realen Fakten im Auge behalten, denn Wirtschaftskraft und Wettbewerbsfähigkeit seien vor allem in der Eurozone deutlich besser, als dies in der Öffentlichkeit dargestellt werde. Die Welt sehe die EU als eine Erfolgsstory und der Erfolg des europäischen Einigungsprozesses könne nur durch Überdehnung verhindert werden. Weitere Erweiterungen seien mit einer effizienten Handlungsfähigkeit und Problemlösungskapazität der EU unvereinbar. Bereits in der EU-25 sei Meinungsbildung und Entscheidungsfindung wesentlich schwieriger als in der EU-15.

Für Mag. Othmar Karas, Vizepräsident der EVP, wird mit der EU und ihrer Arbeit oft verantwortungslos vorgegangen. Die EU sei ein junges, unfertiges Projekt und stehe erst am Anfang. Die EU sei ein politisches Projekt. Regeln, Werte und Rechtsbestand seien die Grundlagen der Union und es wäre mehr Ernsthaftigkeit bei der Umsetzung der Rechts- und Wertegemeinschaft in der politischen Realität erforderlich. Wolle man das Vertrauen der Bürger gewinnen, müsse die Union die gemeinsam beschlossenen Regeln auch zur Grundlage ihres Handelns machen.

Botschafter Manfred Scheich verwies auf die unleugbare Vertrauenskrise der EU. Wesentlich für ihre Lösung werde es sein, dass die EU die Fähigkeit zur Beantwortung der aktuellen Herausforderungen auf sozialem, wirtschaftlichem, aber auch internationalem Gebiet durch gemeinsames Entscheiden und effizientes Handeln, kurz die Fähigkeit zur Problemlösung, beweist. Der Diskussion und Auseinandersetzung über die Grenzen des integrierten Europa dürfe man nicht mehr ausweichen, auch wenn dies politisch schwierig, ja schmerzhaft sein werde. Politische Stärke zeige sich auch darin, Nein sagen zu können. Diese Auseinandersetzung sei auch Voraussetzung für die Herausbildung eines europäischen Identitätsbewusstseins, welches auf Dauer die unverzichtbare Basis für Solidarität im Inneren und gemeinsames Auftreten und Handeln gegenüber der Außenwelt sei. Die erweiterte, heterogener gewordene EU bedürfe für ihr Funktionieren vermehrter Souveränitätsübertragungen an die Union, doch seien die Mitgliedstaaten immer weniger bereit, Teile ihrer Souveränität einer unübersichtlichen, zunehmend grenzenloser werdenden EU zu übertragen. Dies sei ein ernstes Dilemma.

Die EU als internationaler Akteur

Die Rolle der EU als internationaler Akteur wurde unter dem Vorsitz von James Elles, MEP und Präsident des European Ideas Network, eingehend analysiert und diskutiert.

Dr. Christoph Heusgen, Leiter des politischen Stabs der EU und nunmehr außenpolitischer Berater der deutschen Bundeskanzlerin betonte, dass bei der Zusammenarbeit in der Union mehr Rücksicht auf die Wünsche der Bevölkerung genommen werden müsse. Es stehe außer Frage, dass sich die EU nicht nur als wirtschaftlicher sondern auch als politischer Akteur etabliert habe. Heusgen verwies auf das Nahost-Quartett, die Rolle der EU in der G8 und die erfolgreiche Tätigkeit der Union als Krisenmanager. Die Krisenmanagementkapazitäten der Union seien heute weltweit gefragt. Die Union führe eine breite Palette ziviler und militärischer Krisenmanagementoperationen durch. Die militärischen und zivilen Operationen in Bosnien sichern die Stabilität des Landes als Voraussetzung jeder Entwicklung.

Nach Meinung Heusgens "fehlt der EU außenpolitisch oft eine gewisse Einheitlichkeit. Zu viele Akteure seien am Werk". Die Kohärenz der internationalen Aktion müsse daher gestärkt werden. Hier hätte der Verfassungsvertrag echte Verbesserungen gebracht.

Prof. Wolfgang Quaisser unterstrich, dass der Binnenmarkt nach wie vor unvollendet und die Währungsunion noch nicht durch eine Harmonisierung der Wirtschafts- und Fiskalpolitiken abgesichert sei. Die als Folge der Osterweiterung gewachsene Heterogenität bewirke bereits Probleme bei deren Verwirklichung. Die EU sei bereits in einer Phase der Überdehnung, dennoch spräche man von weiteren Erweiterungen.

Zweifel am Bestehen eines effektiven Akteurstatus der Union äußerte Hon. Prof. Dr. Erich Reiter, Beauftragter für Strategische Studien. Er meinte, dass für den Fortgang europäischer Interessenswahrungen im weltpolitischen Zusammenhang das gemeinsame Agieren bloß in der Handelspolitik nicht genüge. Auch seien Absichtserklärungen nicht ausreichend, um konkrete Interessen wahrzunehmen und das Bedrohungs- oder Risikopotential zu begrenzen. Die EU müsse sich über eine Analyse-Gemeinschaft hinaus einen Akteurs-Status noch erarbeiten. Dieser Status lasse sich nicht herbei reden, sondern könne nur erreicht werden, wenn die EU und ihre Mitglieder die gemeinsamen Interessen definieren und die diesen Interessen sowie der Bedrohungslage entsprechenden, sicherheitspolitischen und militärischen Konsequenzen ziehen.

Dr. Werner Fasslabend plädierte in seinen Schlussbemerkungen dafür, aus gewonnenen, politisch oft schmerzlichen Erfahrungen die Bereitschaft zum Lernen abzuleiten. Für eine systematische Erforschung von Ursachen und Wirkungen sei es nie zu spät. Jede Organisation, so Fasslabend, müsse sich fragen, "wer bin ich, was will ich". Jede Zeit begehre immer neue Antworten. Ohne sie bestehe naturgegeben die Gefahr, alles zu verlieren. Der Verfassungsprozess sollte trotz der Ablehnungen in Frankreich und in den Niederlanden auf der Tagesordnung bleiben.


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